Lothar Ibrügger war bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium. In einem Interview mit dem Westfalenblatt lehnt er mit deutlichen Worten eine Tempo-300-ICE-Strecke zwischen Bielefeld und Hannover ab. Die Planungsprozesse zu einer 31-Minuten-Verbindung würden die Verkehrswende und das Klimaschutzsofortprogramm für das Gesamtsystem Schiene „unmittelbar behindern“. Es sei falsch, sich von solchen milliardenteuren Megaprojekten abhängig zu machen. Das Projekt würde das von der Koalition beschlossene Ziel blockieren, bis 2030 den Anteil der Schiene am gesamten Güterverkehr auf 25 % zu erhöhen und die Fahrgastzahlen im Personenverkehr zu verdoppeln. Eine ewig lange Bauzeit bis voraussichtlich 2042 („wenn es gut liefe“) und der Verbrauch von 10 Mrd Euro seien „eine Respektlosigkeit gegenüber dem Steuerzahler". Er fordert, den Ausbau der nur zweigleisigen Strecke Minden-Seelze unverzüglich in Angriff zu nehmen. Das habe der Bundestag schon 2004 beschlossen, aber die Finanzierung sei an den extremen Kostensteigerungen für die Schnellbahntrasse durch Thüringen gescheitert. Den Deutschlandlandtakt stellt Ibrügger nicht in Frage, spricht aber von einem „integrierten Taktfahrplan“. Er müsse „aber von den fatalen Abhängigkeiten von viel zu teuer erkauften Hochgeschwindigkeitsstrecken gelöst werden, weil weder die Ziele beim Klimaschutz noch die Ziele der Verkehrswende bis 2030 so erreicht werden“.
Hier das Interview im Wortlaut (aus Westfalenblatt 19.2.2022, Andreas Schnadwinkel).
Ex-Staatssekretär Lothar Ibrügger (SPD) aus Minden über eine Tempo-300-Strecke von Bielefeld nach Hannover: „Diese Trasse wird nicht gebaut“
Als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium war Lothar Ibrügger auch zuständig für die Finanzplanung von Bahngroßprojekten wie Stuttgart 21 im Bundeshaushalt. In seiner Zeit als SPD-Bundestagsabgeordneter (1976 bis 2009) gestaltete der Mindener die Bahnreform mit. Auch heute, mit 77 Jahren, ist der Diplom-Ingenieur für Stadt- und Regionalplanung noch mit von der Partie – vor allem in Sachen ICE-Trasse. Ibrügger lehnt den Neubau einer Tempo-300-Strecke von Bielefeld nach Hannover durch weite Teile Ostwestfalen-Lippes ab. Dafür hat er mehr als einen Grund.
Was stimmt nicht mit dem Ziel, die ICE-Fahrzeit von Bielefeld nach Hannover auf 31 Minuten zu reduzieren und dafür Infrastruktur zu schaffen?
Lothar Ibrügger: Die 31 Minuten sind eine willkürliche Vorgabe eines inzwischen abgelösten Bundesverkehrsministers. Dieser Wert ist keine Absicht des Bundes, sondern nur der Ausfluss eines dritten Gutachtens zum Deutschlandtakt. Für diese 31 Minuten gibt es keine Rechtsgrundlage, weil sie als Ziel nicht gesetzlich verfügt worden sind.
Und wieso stellt DB Netz dann basierend auf 31 Minuten Pläne für Teilabschnitte in den Kreisen Herford und Minden-Lübbecke vor?
Ibrügger: Das von den Bahnplanern an der Bestandsstrecke präsentierte Horrorszenario zwischen Herford, Löhne, Bad Oeynhausen, Porta Westfalica und Minden hätte vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht keinen Bestand. Denn alle Städte entlang der Strecke haben verbindliche Bauleitplanungen, die das Eigentum der Bürger schützen und städtebauliche Schranken für Verkehrswegeplanungen darstellen. Die grundsätzliche Überprüfung der willkürlich festgelegten Fahrzeit von 31 Minuten beginnt jetzt.
Welche Argumente führen Sie gegen eine ICE-Schnelltrasse an?
Ibrügger: Diese ganzen Planungsprozesse zu einer 31-Minuten-Verbindung behindern unmittelbar die Verkehrswende und das Klimaschutzsofortprogramm für das Gesamtsystem Schiene. Es ist falsch, sich von Megaprojekten abhängig zu machen, die erst in 20 Jahren ihren Verkehrswert entfalten könnten. Das Projekt blockiert die im Koalitionsvertrag formulierte Absicht, bis 2030 den Anteil der Schiene am gesamten Güterverkehr auf 25 Prozent zu steigern und die Fahrgastzahlen zu verdoppeln. Zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland leben in Städten und Gemeinden unter 100.000 Einwohnern, 664 Mittelzentren müssen verlässlich an ein robustes Schienenwegenetz angeschlossen werden. Betrieb und Angebot auf der Schiene sind ein wichtiger Beitrag zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Was noch?
Ibrügger: Wenn es gut liefe, stiege der erste Fahrgast im Jahr 2042 in Hannover in den ICE ein und in Bielefeld aus. Nach einer ewig langen Bauzeit und dem Verbrauch von zehn Milliarden Euro. Das ist eine Respektlosigkeit gegenüber den Steuerzahlern und gegenüber der Wählerschaft als Eigentümer der Deutschen Bahn. Auch wegen der Erfahrungen nach der Flutkatastrophe im vorigen Sommer ist der Ausbau eines robusten Netzes absolut vorrangig und erfordert ein Umdenken. Gegenwärtig ist die neue Bundesregierung damit beschäftigt, die bisherigen Prioritäten von Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer auf den Prüfstand zu stellen. Ich bin überzeugt, dass diese ICE-Trasse nicht gebaut wird.
Neben Bielefeld-Hannover ist mit Würzburg-Nürnberg ein zweites Schnelltrassenprojekt im Gespräch. Gibt es da auch politische Bedenken?
Ibrügger: Dem Gesetzgeber im Bundestag und Bundesrat stellt sich natürlich die Frage, ob diese Vorfestlegung auf zwei Tempo-300-Strecken, die insgesamt 20 Milliarden Euro kosten würden, sinnvoll sein kann. Weder verkehrlich noch betrieblich sind solche Strecken erforderlich für das Gesamtsystem Bahn. Vielmehr erzwingen sie eine Nachfrage für diese beiden Verbindungen und machen damit die Masse der Fahrgäste zu Umsteigern. Trotzdem wären solche Strecken zu keinem Zeitpunkt eigenwirtschaftlich zu betreiben. Legt man die mehr als 10,5 Milliarden Euro kostende Hochgeschwindigkeitsstrecke durch Thüringen und deren bisherige Trassenerlöse zugrunde, kommen wir derzeit auf eine Amortisierungszeit von 145 Jahren.
Wollen Sie den Deutschlandtakt stoppen?
Ibrügger: Zu keinem Zeitpunkt stelle ich die Methodik eines integrierten Taktfahrplans in Frage. Er muss aber von den fatalen Abhängigkeiten von viel zu teuer erkauften Hochgeschwindigkeitsstrecken gelöst werden, weil weder die Ziele beim Klimaschutz noch die Ziele der Verkehrswende bis 2030 so erreicht werden.
Welche Lösung für eine bessere Verbindung zwischen Bielefeld und Hannover schlagen Sie vor?
Ibrügger: Der Bundestag hat 2004 den Ausbau zwischen Minden und Wunstorf auf vier Gleise gesetzlich verfügt. Doch es wurde von den Bundesverkehrsministern Peter Ramsauer und Alexander Dobrindt nicht in Angriff genommen, weil die immensen Kostensteigerungen in Höhe von fünf Milliarden Euro für die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Nürnberg nach Berlin dafür sorgten, dass die 550 Millionen Euro für Minden-Wunstorf nicht mehr vorhanden waren. Ich fordere, den Bau von zwei Güterzuggleisen von Minden nach Wunstorf sofort in Angriff zu nehmen, wie es der Bundestag entschieden hat. Die Fertigstellung würde fünf bis acht Jahre dauern und würde auch die deutsche Verpflichtung für den Ausbau des transeuropäischen Korridors bis 2030 erfüllen.
Warum ist der Ausbau des Abschnitts zwischen Minden und Wunstorf so wichtig?
Ibrügger: Man glaubt es kaum, aber die Planung für den viergleisigen Ausbau der Strecke liegt mehr als 100 Jahre zurück. Die beiden Weltkriege und deren Folgen haben den Bau verhindert. Der Ausbau auf vier Gleise ist auch wichtig, weil nach der Fertigstellung die Zahl der Transit-Lkw auf der A2 deutlich gesenkt werden könnte. Vor zehn Jahren waren es in Bad Oeynhausen täglich 1200 Lkw, heute sind es 3000. Das entspricht 60 Güterzügen.
Quelle: https://www.westfalen-blatt.de/owl/diese-trasse-wird-nicht-gebaut-2532550